Hinweis für die inhaltliche Einordnung: Dieser Blogeintrag wurde zwar später veröffentlicht, aber schon Anfang November 2020 geschrieben und orientiert sich dementsprechend an den damals aus „Funk und Fernsehen“ bekannten Informationen.
Wir schreiben den 16. März 2020. Es ist 15:23 ‚Zulu‘ und ein A330-200 mit der Registrierung D-AXGD erreicht sein Gate am Franz-Josef-Strauss Flughafen München nach 8.799 km Luftlinie und 11:58h Flugzeit aus dem thailändischen Bangkok. Der Flug war relativ unspektakulär, in Bangkok wurde beim Betreten des Hotels die Temperatur gemessen, an Bord haben die ersten Menschen Masken getragen (und sind trotzdem in Socken in die Waschräume gegangen) und das Terminal des größten bayrischen Flughafens ist für einen Montag Nachmittag so ausgestorben, man würde eine Stecknadel fallen hören und fühlt sich gleichzeitig, wie in einem postapokalyptischen Computerspiel.
Eine Stunde 37 Minuten später sitze ich im Airbus A320 auf meinem Weg nach Hause nach Köln/Bonn und nehme ein Foto vom ziemlich leeren Vorfeld auf, welches kurz darauf mit der Anmerkung Wer weiß, vielleicht für längere Zeit mein letzter Aufenthalt in München… seinen Weg in meine Instagram-Story findet.
225 Tage später, am Dienstag, den 27. Oktober, vier Monate nach Ankündigung der Liquidation des eigenen Arbeitgebers, eine halbe Woche nach dem Herausholen der Kündigung aus meinem Briefkasten bin ich auf dem Weg in die Nähe von Frankfurt. Seit dem 16. März habe ich nicht mehr gearbeitet, kein Flugzeug von innen gesehen und war nur zweimal in der Nähe eines Flughafens: Einmal, um meine neue Parkkarte abzuholen, die ich nie gebraucht habe und das zweite Mal, weil wir uns dort getroffen haben, um zusammen zu einer Demonstration und Kundgebung vor dem Bundestag nach Berlin zu fahren. Um für unsere Arbeitsplätze zu kämpfen, da wir auf die Straße gesetzt werden, während die Lufthansa von der Bundesregierung neun Milliarden Euro an Hilfsgeldern bekommt. Während wir dort (vergeblich) für unseren Arbeitsplatz gekämpft haben, bin ich am 27. Oktober auf dem besagten Weg nach Frankfurt, da ich nun selbst für meinen Arbeitsplatz kämpfe. Aber nicht mit einer Demonstration oder gar Kundgebung, sondern weil ich mich auf meinen eigenen Arbeitsplatz beworben habe. Klingt irgendwie absurd, auch wenn ich im Laufe des Tages feststellen musste, dass dem gar nicht wirklich so ist.
Aber der Reihe nach: Um 9:30 Uhr soll das Assessment Center bei Ocean beginnen. Ocean ist der Projektname der Lufthansa für die Bündelung der touristischen Langstrecke, die bis zum Corona-Einschnitt teilweise als Eurowings on behalf of Lufthansa operated by SunExpress geflogen ist sowie zudem von Brussels Airlines und der Lufthansa Cityline betrieben wurde. All das soll in einem neuen Unternehmen und einem neuen AOC gebündelt werden, so die Medienberichte. Je nach Perspektive hat man sich dabei mit 2020 für ein gutes oder schlechtes Jahr entschieden.
Ich bin schon am Samstag zu meinen Eltern nach Bonn gefahren, sodass ich von dort nur noch rund anderthalb Stunden nach Frankfurt fahren musste. An der Ausfahrt Siebengebirge der A3 gesellte sich eine ehemalige Kollegin dazu, sodass wir uns zusammen auf den Weg machten und dank des großen Puffers schon um 8:30 die Räumlichkeiten auffanden, in denen sich die nächsten Stunden der Hauptakt abspielen würde. Eine kleine Frühstückspause später – um 6:50 war mir das noch ein wenig zu früh – konnte es dann auch schon losgehen. Unter Einhaltung von Abständen und Maskenpflicht abseits der festen Plätze hörten insgesamt 21 ehemalige Flugbegleiter der beiden eingestellten Betriebe XG und 4U dabei zu, was Ocean sein soll: Im Grunde ein Startup. Diese Mentalität begegnete mir schon beim ersten Betreten der zentralen Meeting-Räumlichkeit, die für uns den Rest des Tages der Hauptsammelpunkt war. Die Räumlichkeit war offen im Durchgang und ausgestattet mit bunten Sitzwürfeln, einer Kaffeemaschine, einer bequem aussehenden gelben Couch und den typischen Backstein-Wänden, die man in jedem Klischee-Startup-Gebäude wiederfindet. Mit einer Show-Tür, dem Entfernen von einigem an Mobiliar und dem Aufstellen von fünf Stühlen hätte man eine perfekte Alternativ-Location für den Dreh von Die Höhle der Löwen. Und ich war instant verliebt.
Die Startup-Mentalität fand sich auch bei der Vorstellung des Unternehmens wieder: Englische Keywords, die den Spirit von Ocean festhalten, unkomplizierte Wege, möglichst wenig Hierarchie und ein freundschaftliches Miteinander wären alles Bedingungen, die für mich notwendig wären, würde ich je wieder in Vollzeit in die IT gehen wollen, sodass ich mich hier sehr zu Hause gefühlt habe. Okay, die Keywords jetzt nicht unbedingt, aber sie kamen öfter zur Sprache, weshalb ich sie hier erwähne. Ein großer Fokus lag auch beim Man selbst sein, der schon mit dem Dresscode anfing, in dem wir zum Assessment erscheinen sollten: So, wie du dich wohlfühlst.
Das Assessment Center selbst bestand aus vier Elementen und dauerte rund fünf Stunden. In einer Gruppenarbeit von sieben Leuten sollten wir den Spirit von Ocean von der Theorie in die Praxis vor dem Flug und währenddessen übertragen, was uns gut gelang und mir denke ich relativ einfach fiel. Anschließend folgte für mich das persönliche Interview, welches wie jedes andere bisher als großen Aufhänger am Anfang hatte, wie ich denn vom Informatik-Studium zum Fliegen in der Kabine gegangen bin. Weitere Fragen umfassten die positivsten Erlebnisse mit Gästen, wie mich Freunde beschreiben würden, was Kollegen denken, ich besser machen könnte und warum ich meine, ich passe zu Ocean. Den Abschluss bildete die Frage, warum ich mich genauso gekleidet hatte, wie ich mich gekleidet hatte und die Antwort (kein Anzug, weil privat nicht meins; normale Hose, keine Jeans; Hemd, weil sieht schick aus; Pullover/Jacke mit Reißverschluss, weil es kalt ist) war sogar ein wenig ein Widerspruch zu einer Bemerkung vorher, dass ich in humorvollen Situationen manchmal gerne etwas schlagfertiger wäre. Ich war sehr froh, dass ich nicht wie manch anderer eine Ansage aufsagen musste, die wir damals auswendig kennen mussten oder in ein Rollenspiel verwickelt wurde.
Anschließend folgte ein kleiner Englisch-Test und ein Persönlichkeitstest am Computer, wobei beim ersten lediglich Lücken mit richtigen Worten, Zeitformen oder Präpositionen gefüllt werden mussten. Letzterer war irgendwie merkwürdig und mich hat während der Bearbeitung die ganze Zeit interessiert, wie man diesen auswertet. Teilweise waren dort als Beispiel sechs ähnliche Formulierungen mit der Kernaussage Ich arbeite gerne im Team und man sollte ankreuzen, welcher man am wenigsten und welcher am meisten zustimmt.
Nachfolgend hieß es abwarten, ehe um kurz nach 14 Uhr mich eingeschlossen insgesamt sieben Teilnehmer in einen anderen Raum geführt wurden und uns verkündet wurde, dass wir das Assessment Center erfolgreich gemeistert hatten. Wir bekamen alle eine symbolische Bordkarte und würden im Laufe der Woche weitere Infos zum Ablauf, Arbeitsvertrag etc erhalten. Wäre nicht diese Bordkarte, hätte ich mich mindestens für die nächsten zwei Jahre aus der Fliegerei verabschieden müssen und auch wenn dank Corona noch nicht wirklich klar ist, wann der erste Flieger in den Himmel abhebt, freue ich mich sehr, meinen Traumjob nicht komplett aufgeben zu müssen. So habe ich nun aber die Chance, meinen Traumjob weiterzuverfolgen und zwar in einer Arbeitsumgebung, die mir zumindest in der Theorie sehr zusagt und sich dann doch so sehr vom bisherigen Wetlease-Konzept unterscheidet, sodass ich mich nach fünf Minuten nicht mehr so gefühlt hatte, als würde ich mich auf meinen alten Job bewerben. Aber ich bin natürlich auch gespannt, was davon am Ende wirklich umgesetzt wird…